Dokumentarfilm und Podiumsdiskussion mit Can Dündar in Tübingen / Kreisverband Neckar-Alb verschickt Postkarten an gefangene türkische Journalisten
„Unter dem Druck des extremen politischen Islam: Pressefreiheit in Nahost“ hat der Titel einer Benefizveranstaltung im Kino Museum in Tübingen gelautet. Eingestimmt durch einen Dokumentarfilm debattierten bei der Podiumsdiskussion Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, Daniel-Dylan Böhmer, stellvertretender Ressortleiter Außenpolitik der Tageszeitung Die Welt, und Suleiman Abu Dayyeh von der Friedrich-Naumann-Stiftung „Für die Freiheit“ aus dem Büro Jerusalem über die Situation des Journalismus vor allem in der Türkei. Das Gespräch moderierte Peter Welchering vom Deutschen Journalistenverband (DJV), dessen Kreisverband Neckar-Alb im Kino-Foyer für die Aktion warb, Postkarten an gefangene türkische Journalisten zu verschicken.
Tübingen - Eine große Bitte „an alle“ hatte Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet: „Seid auf unserer Seite. Die Menschheitsfamilie muss sich endlich entscheiden, die Länder nicht in der Hand von Diktatoren und Diktaturen zu belassen.“ Er kenne nur eine Demokratie „und die verteidige ich“, die Demokratie, welche die Pressefreiheit achte, die Gleichberechtigung von Mann und Frau hochhalte, die Religion nicht missbrauche zu politischen Zwecken, die Menschenrechte schütze und die Unabhängigkeit der Gerichte gewähre. Dass die Grundlage für solche offenen und fortschrittlichen Gesellschaften und zugleich ein Bollwerk gegen Extremismus ein unzensierter, vielfältiger und vertrauenswürdiger Journalismus sei, war ein Resümee der gut besuchten Veranstaltung, die getragen war vom Tübinger Weltethos-Institut, von der Tübinger Initiative für Raif Badawi, der kanadischen Raif Badawi Foundation for Freedom, der studentischen Menschenrechtswoche Tübingen, der Lokalgruppe von amnesty international Tübingen sowie Terre des femmes und unterstützt wurde von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit sowie vom Deutschen Journalistenverband Baden-Württemberg.
Doch diese Meinungsfreiheit, so der Tenor, sei nicht selbstverständlich in vielen Ländern, sondern dort eingeschränkt und unmöglich. Journalisten würden verfolgt und inhaftiert, gefoltert und ermordet. Ein Beispiel für die Situation im Nahen Osten gab der Dokumentarfilm „Pulverfass Türkei – zwischen Demokratie und Diktatur“. Can Dündar hat das am eigenen Leib erfahren, wurde verurteilt, weil er in seiner Zeitung über illegale Waffentransporte der Türkei berichtet hat. Doch den Landesverrat, so Dündar, habe die Regierung begangen mit diesen Waffenlieferungen, und es sei die Aufgabe eines Journalisten, diese Straftat zu entlarven und sie zu veröffentlichen. Dass die Regierung in der Türkei immer stärker autoritäre Züge annehme, liege in der Psyche Erdogans, meinte Welt-Journalist Daniel-Dylan Böhmer. Das Referendum habe trotz allen Drucks nur einen winzigen Vorsprung für ein Ja zum Präsidialsystem gebracht und damit nur eine dünne Legitimation. Erdogan aber wolle den Eindruck von Kraft und Macht aufrecht erhalten, deshalb müsse er Ausnahmezustand und Bedrohung simulieren und pausenlos die Menschen auf die Straße treiben. Und dabei sei die Religion eine problematische Angelegenheit, betonte Suleiman Abu Dayyeh von der Friedrich-Naumann-Stiftung.
Als typische europäische Illusion bezeichnete Dündar die Vorstellung, Erdogan sei früher gut gewesen und habe sich verändert. Dem widerspreche ein Interview aus dem Jahr 1996, bei dem Erdogan verdeutlicht habe, dass er nicht an die Demokratie glaube: „Erdogan war von Anfang an ein typischer Islamist.“ Er habe sich nicht verändert, aber sein Spiel sehr gut gespielt, um bestimmte Kreise für sich zu gewinnen. „Was sich verändert hat, ist der Blick Europas auf Erdogan.“ Dass der türkische Präsident kein überzeugter Demokrat gewesen sei, bestätigte auch Böhmer. Er attestierte der deutschen Regierung ein taktisches Verhalten gegenüber der Türkei, die das Land nicht verlieren wolle. Das sei der Versuch, eine Balance zu finden, um einerseits Erdogan einzuhegen und andererseits den Dialog nicht abzubrechen. Die Flüchtlingsfrage sei dabei nicht überzubewerten angesichts einer dramatisch wirtschaftlich schwachen Türkei.
Dass die Türkei nicht Erdogan sei, unterstrich Dündar. Erdogan verliere immer mehr: „Die andere Türkei wird stärker werden.“ Abschreiben will Abu Dayyeh den türkischen Präsidenten dennoch nicht, auch wenn dieser nicht viele Freunde habe in der arabischen Welt. „Das kümmert ihn nicht, er fühlt sich stark, und Europa wird sich mit Erdogan arrangieren und sich mit seinem diktatorischen Führungsstil abfinden.“ Deshalb müsse die Türkei auf die innergesellschaftlichen Kräfte setzen; die Veränderung werde von innen kommen, nicht von außen. Für Dündar gehen „falsche Botschaften“ an die Türkei: „Wir wollen von deutscher Seite etwas über Demokratie und Pressefreiheit hören.“ Dass Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Türkei-Besuch das nicht getan habe, hat Dündar enttäuscht. Böhmer sieht darin seit dem arabischen Frühling eine neu erwachte Sympathie der westlichen Diplomatie für Diktaturen: „eine fürchterliche Entwicklung“, die etwas aussage über das eigene Verständnis von Freiheit.
Dem pflichtete Abu Dayyeh zu: Die europäische Außenpolitik lasse sich vom Prinzip leiten business as usual. Dass es anders geht, erläuterte Dündar am Beispiel des französischen Staatspräsidenten Macron, der bei seinem Besuch bei Erdogan deutlich gemacht habe, dass erst ein in der Türkei inhaftierter französischer Journalist aus dem Gefängnis freikommen müsse, vorher rede er über nichts anderes mit Erdogan. Zwei Tage später sei dieser französische Journalist tatsächlich aus der Haft entlassen worden: „In der Diplomatie ist eine entschiedene Haltung viel wichtiger als jeder feine Zug.“ Gleichzeitig plädierte Dündar dafür, nicht die Religion mit der Demokratie zu vermengen. Es gehe um eine Trennung von Religion und Staat. Alle zusammen sollten kämpfen, „bis wir den Staat zwingen zur Demokratie und diese in der Türkei Wurzeln schlägt“. Dabei seien die europäischen Ideale ein Wegweiser, allerdings habe sich Europa selbst von den eigenen Prinzipien entfernt.
Ein Beispiel gebe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der, wie seitens eines Zuhörers zu hören war, Klagen von Entlassenen und Inhaftierten in der Türkei abweise mit der Begründung, diese müssten erst in der Türkei klagen. Dündar bestätigte, dass es dafür keine innerstaatlichen Möglichkeiten gebe und das europäische Recht eingreifen müsse. Ein entsprechendes Urteil des Gerichtshofs würde das Leben von zehntausenden Menschen in der Türkei ändern. Auch von der Bundesregierung erwartet der ehemalige Chefredakteur mehr Einsatz. Und wenn jeder Bundestagsabgeordnete nur ein Zehntel des Engagements zeige, das er dafür aufbringe, die deutschen Soldaten in der Türkei besuchen zu dürfen, für einen Besuch im Gefängnis, dann würde Deniz Yücel nicht mehr einsitzen.
Abu Dayyeh gab zu Bedenken, dass es eines langwierigen Lernprozesses bedürfe, die Menschen im Nahen Osten von der Demokratie zu überzeugen. Dem entgegnete Dündar: Es gehe um Menschen, die an Menschenrechte und Demokratie glaubten. Dabei, so wurde bei der Podiumsdiskussion deutlich, könne wirtschaftlicher Druck auf die Türkei helfen, aber ebenso wichtig sei es, als Zivilgesellschaft die Stimme zu erheben. Der Abend in Tübingen war dafür ein gutes Beispiel.
Text und Fotos: Christoph Holbein