Ein Zwischenruf von Peter Welchering - Vor 24 Jahren hielt ich auf einer Verlegerkonferenz in Düsseldorf einen Vortrag über die Notwendigkeit, die redaktionellen Produktionsprozesse zu digitalisieren. Über den Einsatz von Electronic Mail war sich die damals versammelte Verlegerschaft einig: Überflüssig, das Fax tut es auch.
Vor 18 Jahren diskutierte ich auf einer Konferenz mit Abteilungsleitern aus verschiedenen ARD-Funkhäusern über das von der Computer Zeitung, deren Chefredakteur ich damals war, aufgesetzte Audio-Podcast-Projekt. Die überwiegende Mehrheit der damals Anwesenden war sich einig: Überflüssig, wird sich nicht durchsetzen.
Nur zwei Jahre später brach Panik aus: Bei den Verlegern, weil es plötzlich nicht mehr nur um E-Mail und redaktionelle Produktionsprozesse bei der Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle ging. Bei einigen Hierarchen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, weil ihnen ein Generationenabriss prognostiziert wurde. Die Jüngeren könnten Podcasts attraktiver finden als das linear ausgestrahlte Programm.
Die Verleger reagierten, wie man in einer Panik eben reagiert: panikartig halt. „Online first“, riefen sie zur Parole aus, ohne genau zu wissen, was das eigentlich sein sollte. Aber es klang modern. Sie kannibalisierten ihre Print-Produkte, statt sie durch Online-Aktivitäten zu stärken.
Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk teilten sich die Hierarchen in zwei Fraktionen. Die einen wurden zu totalen Modernisierungsverweigerern und stemmten sich zum Teil sogar gegen die dringend notwendige Digitalisierung der Hörfunk- und Fernsehproduktion. Die anderen mutierten zu Berufsjugendlichen und gaben von der Politik abgesegnete hochdotierte Beraterverträge an selbsternannte Internet-Ikonen.
Es gab aber auch eine Minderheit in den Funkhäusern, die die Herausforderungen, die die neuen Möglichkeiten im Netz plötzlich boten, genauer analysieren und in die Programmstrukturen einarbeiten wollten. Diese Minderheit konnte sich aber nicht durchsetzen.
„Online first“ ist nur ein Panik-Modell
Das Ergebnis dieser Entwicklungen, die da vor 20 Jahren losgetreten wurden, können wir heute besichtigen. Wir sind dabei, professionellen Journalismus abzuschaffen.
Weil das Panik-Modell „Online first“ nicht funktionierte, schickten die Verleger den Journalismus auf den Weg in den Niedriglohnsektor. (In einigen Blättern bei etatmäßiger Einsparung des Relativsatzes.) Wohlgemerkt: Es ging den Verlegern dabei nicht mehr um betriebswirtschaftliche Logik, es ging um Panik.
In den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern begann man sich zu sorgen. Angst vor der Zukunft war immer schon ein schlechter Ratgeber und bei einigen öffentlich-rechtlichen Hierarchen wollte man diese Angst durch Zukunftsgarantien der Politik lindern. Das führte in der Folge dazu, dass einige Funkhaus-Barone zu Stenographen der Macht wurden.
„Weiß Ihr Intendant eigentlich, was Sie hier treiben“, fragte mich der damalige Ministerpräsident Günter Oettinger angelegentlich einer kritischen Interviewfrage. Und er ergänzte sofort, er würde sich über mich beschweren, wenn ich weiterhin so obstruktiv nachfragen würde.
Oettinger hat damals seine Erfahrungen mit seiner Landesrundfunkanstalt auf die Rundfunkanstalt übertragen, für die ich damals unterwegs war und noch heute bin. Ich habe ihm damals schon erwidert, dass das ein Fehler sei, weil die Redaktion, für die ich tätig sei, ihre Arbeit über klare journalistische Werte definiere.
Die geschilderten Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre haben uns Journalisten ängstlicher werden lassen, als der Pressekodex erlaubt. Mit dieser Ängstlichkeit geht der professionelle Journalismus tatsächlich den Bach runter. Das müssen wir ändern.
Es geht um nichts weniger, als den professionellen Journalismus mit und in seiner Wächterfunktion zu erhalten. Das ist eine enorm schwierige Aufgabe. Ich bin manchmal skeptisch, ob wir sie bewältigen werden. Die gegenwärtige Debatte um öffentlich-rechtliche Rundfunkangebote und ihre Ausgestaltung, natürlich auch im Netz, könnte ein Ausgangspunkt sein.
Gegenwärtig ist sie es nicht. Vertreter des Verlegerlagers, die vom „Staatsfunk“ reden und Funkhäuser in der Nähe Nordkoreas sehen, sind einfach nur weiterhin auf ihrem Panikkurs unterwegs, den sie eingeschlagen haben, nachdem ihnen jemand sagte, dass sie ihre zweistelligen Umsatzrenditen verlieren, wenn sie weiterhin nichts von Digitalisierung wissen wollen.
Funkhaus-Hierarchen, die bei Facebook Anzeigen schalten wollen und meinen, damit würden sie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk retten, haben ebenfalls nicht begriffen, worum es dem Journalismus in digitalen Zeiten gehen muss, nämlich konsequent die Wächterfunktion wahrzunehmen.
Journalisten, die ihr enttäuschtes Publikum zurückgewinnen wollen, indem sie den Sirup restaurativer Erbaulichkeit über ihre Geschichten gießen und das „konstruktiven Journalismus“ nennen, haben die Herausforderungen einer digitalisierten Gesellschaft genauso wenig verstanden wie die Kollegen, die sich den Methoden digitaler Recherche konsequent verweigern.
Investigativer Journalismus als weißer Schimmel der Medien
Auch die Medien-Propheten, die ihre fern vom journalistischen Alltag angestellten Denkübungen in Sachen digitaler Metaphysik als alleinseligmachendes Zukunftskonzept für unser Gewerk anpreisen, helfen uns hier nicht weiter. Sie führen uns auf Holzwege. Einer dieser Holzwege führt in den angeblich „investigativen Journalismus“.
Das ist so eine Art weißer Schimmel der Medien. Recherche gehört nämlich zum journalistischen Handwerk wie der Hydraulikmeißel zum Abbruchunternehmer. „Recherche“ kann man auch „Nachforschung“ oder „Investigation“ nennen. Wer sind gedrängt fühlt, extra zu betonen, sein oder ihr Journalismus sei investigativ, zeigt, dass gerade etwas mächtig schief geraten ist in unserem professionellen Selbstverständnis.
Das führt dann dazu, dass ein belangloser Tweet über eine angeblich schlecht besuchte Wies’n zum Ausgangspunkt einer mächtig investigativen Recherche, die vorgeblich schlimme Fake News entlarvt, wird, und so eine Kurzmitteilung ohne jeden Nachrichtenwert tagelang die journalistische Diskussion bestimmt. Entweder weil ein „anwaltschaftlicher Journalismus“ damit seine politische Propaganda fidei herausblasen will, oder weil die Kunst des journalistischen Handwerks, einen Nachrichtenwert anhand klarer Kriterien zu bestimmen und zu begründen, nicht mehr beherrscht wird.
Deshalb droht professioneller Journalismus, gerade den Bach runterzugehen. Aber wir sollten das nicht zulassen. Wir sollten stattdessen wieder klar kommunizieren, welchen journalistischen Werten wir uns verpflichtet sehen und warum, mit welchen Methoden wir unsere Geschichten genau recherchiert haben und warum diese Geschichten für unsere Gesellschaft wichtig sind.
Mit anderen Worten: Wir sollten einfach wieder sauberem journalistischem Handwerk nachgehen und die Möglichkeiten nutzen, die uns digitale Medien geben, zuvörderst die Möglichkeit, unser journalistisches Handeln transparent werden zu lassen, so dass sich unsere Nutzer einen Eindruck verschaffen können, auf welcher Recherchegrundlage wir welche Geschichte wie entwickelt haben (natürlich unter Wahrung aller Anforderungen, die der Informantenschutz so stellt).
Wächterfunktion bleibt zentrales Thema
Damit wir unserem journalistischen Handwerk nachgehen können, brauchen wir Verleger, die genau dies auch wollen. Und wir brauchen Führungskräfte in den Funkhäusern, die genau diese Arbeit zulassen und fördern, und zwar völlig unabhängig von einem schwarzen oder roten Freundeskreis im Rundfunkrat.
Denn wir haben hier einen für die Gesellschaft wirklich wichtigen Job zu leisten. Ein junger Redakteur der Rheinischen Zeitung hat das im Jahr 1842 auf die heute immer noch gültige Formel gebracht: „Die freie Presse ist das überall offene Auge des Volksgeistes, die rücksichtlose Beichte eines Volkes vor sich selbst, der geistige Spiegel, in dem ein Volk sich erblickt“. (MEW 1,60)
Und nun nehme ich mit professionellem Gleichmut die Angriffe und Shitstorms hin, die sich zumindest aus diesem Zitat eines der Wegbereiter professionellen Journalismus ergeben. Jürgen Neffe hat über ihn eine grandiose Biographie geschrieben und dort festgestellt: „Sein zentrales Thema, von Skeptikern und Gegnern jeder Couleur noch immer leidenschaftlich bestritten, war die Freiheit“. Und das sollte auch das zentrale Thema professionellen Journalismus sein: die Freiheit. Deshalb brauchen wir die Wächterfunktion, deshalb darf der professionelle Journalismus gerade nicht den Bach runtergehen.