Der deutsche Journalist Cedric Rehman (u.a. Berliner Zeitung, Badische Zeitung, taz, StZN, Mitglied im DJV) erlebte in den vergangenen Tagen hautnah die Schrecken des Krieges in der Ukraine und berichtet im Gespräch von „apokalyptischen“ Szenen, die er als Begleiter eines ukrainischen Filmemachers sowie eines Hilfsgüter-Transports der Stuttgarter Hilfsorganisation Stelp e.V. Stuttgart gesehen hat.
Herr Rehman, wie geht es Ihnen?
Das ist eine Frage, die ich mir selbst nicht mehr stelle. Man funktioniert einfach! Man macht seine Arbeit. Ich habe zwei Reportagen geschrieben, damit bin ich jetzt erst einmal durch und hoffe, dass ich heute raus komme aus der Ukraine. Der Plan ist, heute Abend die Grenze zu Polen zu überqueren und dann wieder Richtung Heimat zu fahren.
Sie begleiten einen Transport der zivilen Stuttgarter Hilfsorganisation "Stelp". Wie kam es dazu?
Ich bin von Berlin ursprünglich mit einem ukrainischen Filmemacher losgefahren, der seine Familie evakuieren wollte. Es war eher ein Zufall, dass sich Stelp am selben Tag in Bewegung gesetzt hat. Ich habe zunächst meine erste Geschichte über die Reise mit dem ukrainischen Filmemacher gemacht und über meine Erlebnisse an der Grenze, in dieser katastrophalen Situation, die ich da vorgefunden habe. Ich habe dann später, nachdem die erste Geschichte veröffentlicht war, dokumentiert, wie Stelp versucht, die Hilfe reinzubringen und welche Schwierigkeiten es dabei gibt.
Sie haben von der katastrophalen Situation gesprochen. Wie würden Sie die aktuelle Lage denn konkret beschreiben?
Vorneweg: Die letzten Nachrichten sind ermutigend. Die polnische Seite hat die Formalitäten vereinfacht, dadurch entspannt sich die Lage an der polnischen Grenze etwas, das sind aber nur Momentaufnahmen, weil gleichzeitig immer mehr Menschen nach Lwiw strömen. Als ich hineingegangen bin, war es apokalyptisch. Eines der schlimmsten Dinge, die ich in meinem Leben erlebt habe: Direkt, nachdem wir die Grenze überschritten hatten, haben wir bremsen müssen, vor uns ist eine entkräftete, ältere Dame zusammengebrochen und trotz Herzmassage vor unseren Augen verstorben. (In diesem Bericht gibt es eine Schilderung dieser Geschichte; d. Red.)
Wir haben uns durch einen kilometerlangen Stau über Stunden kämpfen müssen, in dem die Menschen vollkommen in Panik waren. Viele haben ihre Autos stehen lassen und sind zu Fuß dreißig Kilometer gelaufen. Haben Kinderwagen, Rollstühle durch den Schlamm geschoben. Autos sind ausgeschert und dann über die Äcker davon gebraust. Andere waren komplett eingekeilt, die Menschen sind auf ihre Autodächer geklettert und haben um Hilfe geschrien. Aber was soll man machen? Sie waren einfach eingekeilt. Es war Panik, Massenpanik. Es war apokalyptisch, ich kann es nicht anders sagen. Ich bin seit zehn Jahren in Krisengebieten, und es war sicherlich das schlimmste Erlebnis meiner bisherigen beruflichen Laufbahn.
Wie können Sie denn unter diesen Bedingungen arbeiten?
Ich kann nur wiederholen – man funktioniert! Ich hatte am Abend meiner Anreise noch jemanden vom Stadtrat getroffen und habe dann am nächsten Tag meine erste Reportage geschrieben. Und dann ging es schon weiter mit den Stelp-Leuten. Wir saßen den ganzen Tag im Auto und haben versucht, Medikamente zu bekommen, die es schon nicht mehr gibt, weil die Lieferketten in der Ukraine komplett zusammengebrochen sind. Wir haben uns die ebenfalls schwierige Lage am Bahnhof von Lwiw angeschaut, wo Menschen versuchen, die Züge zu stürmen, über die Gleise zu laufen. Die Gänge sind komplett verstopft gewesen, also wirklich so, dass die Leute ohnmächtig wurden in dem Gedränge und verzweifelt nach Hilfe geschrien haben. Doch auch da sind die neuen Informationen ermutigend, es kommen immer mehr neue Züge und die katastrophale Lage am Bahnhof von Lwiw scheint sich zumindest momentan entspannt zu haben. Man muss aber bedenken: Momentan kommen zwar Leute raus, aber es kommen viel mehr Menschen nach! An diesem zweiten Tag, an dem ich mit Stelp unterwegs war, haben wir eine ukrainische Gemeinde getroffen, dort schlafen Geflüchtete im Gemeindezentrum. Die Leute dort sind sehr gut vernetzt und sagen, dass es im Zusammenhang mit den zusammengebrochenen Lieferketten absehbar ist, dass es in der Stadt Probleme mit der Nahrungsmittelversorgung geben wird, man geht von fünf bis zehn Tagen aus. Ich spüre das auch ein bisschen im Alltag. Es sind kaum noch Restaurants geöffnet und in den wenigen noch geöffneten bekommt man zwar eine Speisekarte, aber das meiste kann nicht gekocht werden, weil die Zutaten fehlen. Man bekommt also mit, dass das Nahrungsangebot immer knapper wird. Insgesamt ist da keine Zeit für Reflexion oder Gefühle.
Sie werden aber nicht an Ihrer Arbeit gehindert?
Das muss ich differenziert beantworten: Die Ukraine hat Pressefreiheit und ist für ausländische Unterstützung generell dankbar und reagiert sehr offen, sehr hilfsbereit auf westliche Journalisten und humanitäre Helfer. Wir haben nur leider folgende Situation: Es ist uns schon in Kiew passiert, dass sich russische Provokateure als ukrainische Soldaten verkleidet haben. Die Angst ist hier in Lwiw sehr akut, dass unter den Geflüchteten auch russische Provokateure sind. Oder auch die Tschetschenen, die Präsident Kadyrow losgeschickt hat, eine sehr gefährliche, bestialische Truppe. Da gibt es schon ein Misstrauen gegenüber Menschen, die nicht von hier sind. Man hat auch mit Menschen in Uniform oder den Selbstverteidigungskräften aus der Bürgerschaft zu tun, die alle hoch angespannt sind, nicht geschlafen haben und sehr nervös sind. Da muss man manchmal die Ruhe bewahren und Geduld haben. Die gucken schon genau hin, wenn jemand kein ukrainisch spricht. Aber es ist auch verständlich: Es gibt Provokateure, die sind unterwegs, die haben gleich am Anfang im Regierungsviertel von Kiew geschossen. Die könnten schon hier sein oder morgen ankommen und Anschläge verüben. Natürlich werden wir auch an Checkpoints genau kontrolliert. Also ich äußere ein gewisses Verständnis für dieses Misstrauen. Aber die Ukraine ist sicherlich ein Land, das Journalisten gut behandelt.
Was wissen Sie denn zur Situation der ukrainischen Kolleginnen und Kollegen – wie weit funktioniert die ukrainische Berichterstattung über den Krieg?
Ich kann es nicht hundertprozentig verfolgen, ich bin nicht mit ukrainischen Kollegen in Kontakt. Ich sehe Fernsehnachrichten und bekomme mit, dass die Kollegen ein großes Risiko eingehen, die Kamera dahin zu halten, wo es knallt. Sie schicken Berichte aus Charkiw, aus Kiew und anderen schwer betroffenen Gebieten. Die sind vor Ort und ich denke, die werden sich und ihr eigenes Leben hinten anstellen, um über diesen Krieg zu berichten. Das entspricht einfach einer Grundstimmung der Ukrainer, dass man jetzt zusammen halten muss, Opferbereitschaft zeigt. Gerade die Journalisten sind sehr engagierte Leute; die haben am Maidan (pro-europäische Protestbewegung auf dem Maidan-Platz, Nov. 2013- Febr. 2014; Anm. d. Red.) teilgenommen, sind gegen den damaligen Präsidenten Janukowitsch auf die Straße gegangen, für Pressefreiheit. Ich habe jedenfalls akute Angst um meine Kollegen, die natürlich sehr gefährdet sind, wenn sie russischen Streitkräften in die Hände fallen.
Die Arbeit im Kriegsgebiet ist hochgefährlich. Wie schützen Sie sich?
Schwierig! Ich habe keine Ausrüstung in Form einer schusssicheren Weste oder einen Helm dabei. Ich bin in einem Gebiet der Ukraine, in dem nicht gekämpft wird, das war mir bewusst. Es ist auf der anderen Seite so, dass eine schusssichere Weste ohnehin gegen Raketen nicht hilft. Wir haben hier regelmäßig Fliegeralarm, bei manchen heißt es, es sei ein Test. Aber ich habe auch mehrere Fliegeralarmsituationen gehabt, wo mir klar wurde, das ist jetzt real. Ich bin in einer kleinen Pension, da hängen Handzettel, wo der nächste Luftschutzbunker ist. Ich habe die bisher nicht aufgesucht, ich verlasse mich da auf das Verhalten der anderen. Ich meine, wir wissen, dass ab und zu Raketen oder Flugzeuge über Lwiw fliegen, aber die sind in den ganzen Tagen seit Kriegsbeginn noch nicht in der Stadt eingeschlagen. Aber naja, das ist natürlich eine Momentaufnahme, das kann sich in der nächsten Stunde ändern, das ist uns bewusst. Es gibt jedenfalls nicht viele Möglichkeiten, sich gegen diese Gefahr zu schützen. Wenn ich mitbekomme, dass die Leute hier auf der Straße ernst machen und die Beine in die Hand nehmen, werde ich dasselbe tun und den nächsten Luftschutzbunker anstreben, sofort! Ich habe mir auch schon angeguckt, wo der nächste ist, und weiß Bescheid.
Wie geht es denn für Sie in den nächsten Tagen weiter?
Das habe ich mir ehrlich gesagt noch nicht überlegt. Der erste Schritt ist, jetzt rauszukommen, der zweite Schritt – man wird sehen... Ich bin fester freier Journalist bei der Berliner Zeitung, die haben sicherlich auf der einen Seite Wünsche nach einer weiteren Berichterstattung, vielleicht auch von Deutschland aus meine Kontakte zu nutzen. Aber die haben auch Solidarität und Verständnis, wenn ich sage, ich brauche jetzt erst mal eine Auszeit.
Interview: Kathrin Horster-Rapp