"In diesem Krieg zeigt sich, was wir können"

Seit 2011 arbeite ich für ukrainische Medien. Direkt nach meinem Masterstudium der Linguistik bekam ich einen Job als Online-Journalistin bei dem damals größten und besten Nachrichtenportal der Ukraine, einer Website des Magazins „Korrespondent“. Miteigentümer war damals der Süßwaren-Oligarch und spätere Präsident Petro Poroschenko.

 

Das war eine tolle Zeit für mich: Ich war eine ambitionierte Hochschulabsolventin, stürzte mich in die Medien, das schnelle Nachrichtengeschäft, eine dynamische Redaktion mit blitzgescheiten und talentierten Kolleg*innen. Ich bin schon stolz darauf, wie wir es schafften, hohe journalistische Standards einzuhalten und doch viele Klicks zu generieren.

 

Ende 2013 war plötzlich alles anders: Ein anderer Oligarch aus dem Umfeld des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch kaufte den ganzen Medienkonzern. Die meisten meiner Kolleg*innen verließen die Redaktion oder wurden entlassen. Russische Manager übernahmen die Geschäfte. Das war am ersten Tag des „Euromaidan“ – die Proteste wurden später in der Ukraine als „Revolution der Würde“ bezeichnet. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag in der Redaktion, der sich für uns alle wie das Ende anfühlte. Wie viele von uns hatte auch ich Angst, dies könnte das Ende der Pressefreiheit und Meinungsfreiheit in der Ukraine bedeuten – und dass wir langsam in Russland aufgehen würden.

 

Doch dann wurde daraus ein Neubeginn. Medien in der Ukraine schlugen nicht nur die korrupten, totalitären Anwandlungen zurück, sondern kamen sogar stärker und besser aus dieser Krise hervor. Anstelle von  zwei oder drei großen Nachrichtenportalen gab es plötzlich dutzende, wie beispielsweise nv.ua, hromadske.ua, espreso.tv oder bykvu.com. Mit der Revolution hatte eine neue Ära für die ukrainische Medienlandschaft begonnen, komplett unabhängig und online. Viele neue Medien entstanden auch ohne Verbindung zu einem Printmedium oder einem großen Sender. Das Interesse der Menschen an schneller Information in Zeiten der Krise brachte den Online-Medien

neue Finanzierungsmöglichkeiten durch Investoren oder Crowdfunding.

 

Als Russland Anfang 2014 den Donbas angreifen ließ, wurden viele meiner Kolleg*innen zu Kriegsreporter*innen. Sie erfuhren am eigenen Leib, was es bedeutet, von einer Front zu berichten. Das war sehr herausfordernd. Wir erfuhren auch, wie weit russische Propaganda und Fake News gehen können – hier sei nur daran erinnert, wie der Sender „Russia Today“ das Publikum ernsthaft glauben machen wollte, ein abgeschossenes Flugzeug habe schon vorher Leichen transportiert.

 

Wir lernten, was es bedeutet, mit Kriegstraumata zu arbeiten und über Tote und Zerstörung in unserer Heimat zu berichten. Wir lernten unseren eigenen Schmerz zu bändigen, um weiterhin professionelle Beobachter*innen sein zu können. Wir lernten, uns selbst zu schützen und so zu arbeiten, dass wir unsere Angehörigen, Kolleg*innen und die ukrainische Armee nicht gefährden. Wir lernten aber auch, wie wichtig es ist, Gut und Böse zu unterscheiden und Dinge zu benennen. Das ist ein wichtiger journalistischer Standard gerade in Zeiten von Fake News und Relativismus, mit dem autoritäre Regime Zweifel säen, so dass Menschen glauben, es gebe keine Wahrheit und keine Belege für nichts.

 

Als dann die großangelegte russische Invasion in der Ukraine begann, war die Medienlandschaft eigentlich sehr dynamisch und von Wettbewerb geprägt. Eine der heftigsten Debatten, die uns in den Monaten vor dem Krieg beschäftigte, war die Frage nach der Pressefreiheit. Es gab zahlreiche kritische Veröffentlichungen über die unklare Akkreditierung bei den stundenlangen Pressekonferenzen von Präsident Selenskyj. In Medienkreisen diskutierten wir noch sehr ernsthaft, ob die Schließung pro-russischer Propagandasender wirklich gerechtfertigt war, oder doch eine Bedrohung für die Meinungsfreiheit in der Ukraine.

 

Inzwischen verstehe ich, wie viel wir verlieren können, wenn Russland gewinnt. Wir hatten und haben Pressefreiheit und Meinungsfreiheit in der Ukraine und das ist großartig. Alle können ihre Meinung sagen – selbst in Zeiten des Krieges haben wir immer noch gesellschaftliche Debatten darüber, wie pro-russische Propagandisten im Staatsfernsehen behandelt werden sollten. Ja, es gibt sie tatsächlich noch in der ukrainischen Medienlandschaft: Es gibt Fernsehmoderatoren, Nachrichtensprecherinnen oder Expert*innen, die vorher für pro-russische Propagandasender gearbeitet und alles verbreitet haben, was Russland die Welt glauben machen will: Dass es keine Ukraine gebe, dass das ein fiktiver, gescheiterter Staat sei, dass Ukrainer*innen eigentlich auch Russ*innen seien, dass der Westen die Ukraine benutze, um Russland zu bekämpfen, dass die USA Labore in der Ukraine bauen würden, um Russland mit biologischen Kampfstoffen anzugreifen, dass die ukrainische Armee Zivilisten und Kinder im Donbas töte, und vieles mehr.

 

Genau dieselben Leute sind heute auch bei „United News“, einer täglichen Dauer-Nachrichtensendung im Fernsehen. Sie wurde von den wichtigsten Sendern der Ukraine gemeinsam ins Leben gerufen, die das rund um die Uhr auf verschiedenen Kanälen ausstrahlen. In unseren Journalistenkreisen versuchen wir nun, eine Stelle zu schaffen, die den Berufsstand schützt, indem diejenigen, die von Anfang an journalistische Standards verletzt haben, sich nicht mehr Journalisten oder Nachrichtenanbieter nennen dürfen. Da muss es eine klare Trennung geben. Ich glaube schon, dass wir als professionelle Medienleute das hinbekommen. Wir haben keine andere Wahl – es steht zu viel auf dem Spiel.

 

Wir haben eine starke und lebendige Zivilgesellschaft. Unabhängige Medien können in der Ukraine nicht nur erfolgreich bestehen, sondern sie machen einen Unterschied. Präsident Poroschenko hat die Möglichkeit einer zweiten Amtszeit verspielt, weil investigative Journalisten über die Verbindungen aus seinem geschäftlichen Umfeld zu Korruption in der Armee berichtet haben. Präsident Selenskyj wird nach wie vor kritisiert, wenn er oder seine Mitarbeitenden sich Fehltritte leisten.

 

Seit dem vergangenen Jahr arbeite ich für das unabhängige Onlinemedium Zaborona, das sich mit der Förderung von Stiftungen wie der Open Society Foundation, dem National Endowment for Democracy, Free Press Unlimited oder Journalismfund.eu finanziert, aber auch durch Firmenkunden oder mit Spenden von Lesenden über die Plattform Patreon.

 

Vor dem Krieg beschäftigten wir uns thematisch hauptsächlich mit langen, hintergründigen Stücken über Menschenrechtsverletzungen, Kultur, Migration, Sicherheit oder organisiertes Verbrechen in der Ukraine und Osteuropa. Doch seit Kriegsbeginn sehen wir es als unsere Hauptaufgabe an, über russische Kriegsverbrechen zu berichten, Geschichten von Überlebenden zu sammeln und zu erzählen, die menschlichen Tragödien des Krieges zu zeigen, aber auch Themen wie Dekolonisierung oder die Selbstreflexion und Identifikation der Ukrainer*innen zu erklären.

 

Dieser Krieg hat uns gezeigt, was wir können, und was wir der Welt zu bieten haben. Viel zu lange haben wir zu unseren ach so professionellen und erfahrenen russischen Kolleg*innen aufgeschaut. Jetzt sehen wir, dass sie eigentlich nur hilflos und ängstlich sind, dass sie nicht die Erfahrung haben, die wir haben, und dass sie keine Freiheit erfahren haben. Sie können auch keinen Einfluss nehmen. Anders als viele westliche Journalist*innen riskieren wir täglich unser Leben.

Eigentlich ist es sogar eine doppelte Herausforderung für uns, unsere Gefühle und unseren Schmerz darüber, was mit unserer Heimat passiert, wegzudrücken. Wir sind leider nicht in der komfortablen Lage, in dieser Situation komplett rational zu sein. Aber wir bemühen uns sehr. Denn wir wissen, was sonst der Preis wäre.

 

Vseslava Soloviova

 

Übersetzung aus dem Englischen: Markus Pfalzgraf

 

Vseslava Soloviova arbeitet nach ihrer Flucht aus der Ukraine von Baden-Württemberg aus weiter für Zaborona. Für uns hat sie exklusiv ihren Blick auf die Medienlandschaft in ihrer Heimat aufgeschrieben.